veröffentlicht: Oktober 2025
von Björn Jensen
Extended-Reality-Technologien (XR) wie Virtual- und Augmented Reality bieten Museen neue Wege, ihre Inhalte immersiv, interaktiv und emotional erlebbar zu machen. Sie eröffnen Chancen zur Steigerung der Besucherzahlen und zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle - besonders in Kooperation mit der dokumentarischen Filmbranche. Noch gibt es aber technische und strukturelle Hürden zu überwinden, vor allem aber braucht die Branche einen Event, auf dem sich die Akteure vernetzen können.
Museen stehen im 21. Jahrhundert vor der Herausforderung, ihre Attraktivität und Relevanz für ein zunehmend digital-affines Publikum zu bewahren. Die Erwartungen der Besucher an pädagogische Vermittlungskonzepte und emotionale Erlebnisse verändern sich. Um attraktiv zu bleiben, sind innovative Vermittlungsstrategien erforderlich, die über klassische Ausstellungskonzepte hinausgehen.
Extended Realities (XR) Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) haben in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung erlebt, da sie innovative Wege bieten, historische, künstlerische und kulturelle Inhalte auf immersive Weise zu präsentieren. Laut der Plattform Museumnext bietet diese Technologie Museen die Möglichkeit, ihre Ausstellungen interaktiver und immersiver zu gestalten, was zu einer verbesserten Besuchererfahrung und erhöhten Besucherzahlen führt. (Link)
Zugleich befinden sich traditionelle Dokumentarfilmproduktionen in einer strukturellen Krise: Budgetkürzungen durch Sender, eine Übersättigung des internationalen Marktes und die Fragmentierung der Distributionskanäle belasten die Branche erheblich.
Gerade hier liegt eine Chance: Dokumentarfilmproduzent:innen verfügen über eine hohe Vermittlungskompetenz im Bereich edukativer Inhalte. Diese Expertise kann in neuen medialen Kontexten - insbesondere im Bereich der immersiven Technologien - eine zentrale Rolle spielen und Museen in ihrer digitalen Transformation unterstützen.
Immersivität gilt als das zentrale Vermittlungskonzept der Zukunft. Immersive Technologien ermöglichen Besucher:innen ein unmittelbares, interaktives Erleben von Inhalten. Virtuelle Realitäten überwinden geografische, physische und zeitliche Barrieren: Ob ägyptische Grabkammern, prähistorische Höhlen, ein Spaziergang mit Dinosauriern oder schwer zugängliche Naturschauplätze - XR macht Orte erlebbar, die im physischen Raum kaum oder gar nicht zugänglich sind.
Darüber hinaus tragen immersive Medien zu einem nachhaltigeren Kulturkonsum bei, da Reisen mit hohem CO₂-Footprint reduziert werden können. Somit entsprechen XR-Experiences den verschiedenen Going Green-Initiativen der EU und der Förderinstitutionen der Mitgliedsstaaten.
Für Museen eröffnet XR zudem wirtschaftliche Perspektiven. Neben einer gesteigerten Attraktivität bestehender Ausstellungen können zusätzliche Einnahmequellen durch den Verkauf von VR-Erlebnissen generiert werden. Über den Fun-Faktor hinaus bieten XR Experiences eine wissenschaftlich bewiesene bessere Wissensvermittlung und -speicherung, da Lerninhalte mit Emotionen verbunden werden. So können klassische Ausstellungsformate abwechslungsreich ergänzt werden und das Interesse am Museumsbesuch gefördert werden.
Wirtschaftlich erfolgreich werden XR-Technologien zurzeit in der Industrie eingesetzt, sowie, im Bereich B2C, als Location-Based Entertainment-Formate (LBEs). Sie erlauben oft mehreren Spielern gleichzeitig, in virtuelle Welten einzutauchen, um dort gemeinsam Aufgaben zu lösen. So befinden sich in vielen Städten VR-Angebote, die sich vor allem an Touristen richten. Im Gegensatz dazu bieten zum Beispiel Area 15 in Las Vegas und Centre Phi in Montreal eine breitere Palette an immersiven Erfahrungen an. Marktführer ist vermutlich das amerikanische Unternehmen SandboxVR, das ca. 50 Standorte weltweit betreibt.
Trotz dieser Potenziale befindet sich der Markt für VR- und AR-Anwendungen im Museumsbereich noch in seinem Anfangsstadium. Die möglichen Entwicklungs- und Produktionskosten im mittleren 6-stelligen Bereich übersteigen meist die Einkaufsbudgets der Museen. Die im Dokumentarfilm etablierten internationalen Finanzierungsmodelle, die auf der Kooperation zwischen Produktionsfirmen, internationalen Koproduzenten, Förderinstitutionen, Lizenzkäufern und Vertriebsfirmen basieren, sind vielen Museen nicht bekannt. Dabei könnten gerade Koproduktionen die hohen Kosten für die einzelnen Partner deutlich verringern. Würden sich mehrere Museen zusammenschließen, etwa aus Stockholm, Sevilla und Montreal, ließen sich die Kosten aufteilen und somit für alle Partner deutlich senken. Durch die Produktionsfirma beantragte Fördermittel könnten zusätzlich die Investitionskosten reduzieren. Ein solches Modell wäre ein entscheidender Schritt, um immersive Produktionen für den musealen Sektor wirtschaftlich tragfähig zu machen, dafür braucht es aber einen Markt-Event, auf dem sich die verschiedenen Partner vernetzen können.
Hinzukommt, dass Anbieter von XR Erfahrungen bislang oft Start-ups sind oder aus dem Bereich Industriefilm, Games oder dem Kunstsektor kommen und nicht primär aus dem klassischen Dokumentarfilm. Dabei böte gerade der XR-Markt Dokumentarfilmproduktionen eine Chance, sich in der aktuell schwierigen Marktlage neu zu positionieren. Denn die Hersteller dokumentarischer Produktionen würden die Erfahrung mitbringen, Wissen zielgruppengerecht und ansprechend zu vermitteln. Den meisten von ihnen fehlt jedoch sowohl die Erfahrung im Umgang mit immersiven Technologien, als auch die internationale Vernetzung in der Szene.
Internationale Festivals und Märkte spielen eine Schlüsselrolle in der Entwicklung und Sichtbarmachung von Produktionen sowie der Vernetzung unter den Akteuren.
Werfen wir mal einen Blick auf einige relevante europäische Festivals und Märkte, die in diesem Bereich tätig sind:
CPH:DOX Copenhagen International Documentary Film Festival (Dänemark) bietet eine immersive Sektion, primär mit künstlerischen Arbeiten.Es fehlt bislang der führende internationale Markt für die Entwicklung und den Vertrieb von XR-Produktionen, auf dem Museen, Produktionsfirmen, Förderinstitutionen und Vertriebe gezielt zusammengeführt werden. Dies erschwert die Etablierung stabiler Kooperations- und Finanzierungsstrukturen erheblich. Als bedeutendster dokumentarischer Event der Welt mit über 2.000 Besuchern, wäre vermutlich die Sunny Side of the Doc der zurzeit am besten geeignete Ort, um diese Vernetzung herzustellen.
Leider gibt es noch keine umfassenden, öffentlich zugänglichen Studien, die eine genaue Quantifizierung des finanziellen Erfolgs von VR-Erlebnissen in Museen für jedes einzelne Projekt liefern. Meist teilen Museen diese Daten nicht öffentlich. Hinzu kommt, dass die Steigerung der Besucherzahlen oft auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist, nicht nur auf VR-Erlebnisse allein. Außerdem ist es schwierig, Museen mit und ohne VR-Erlebnisse direkt miteinander zu vergleichen.
Veröffentlichte Daten lassen aber den Schluss zu, dass die ökonomischen Potenziale für den Einsatz immersiver Medien in Museen erheblich sind. Studien und erste Praxisbeispiele zeigen, dass Museen mit VR-Erlebnissen zusätzliche Besucher:innen gewinnen und Einnahmen zwischen 100.000 und 1 Mio. Euro pro Jahr erzielen können. Herausragende VR-Experiences, die sich mit dem Museumskonzept, beziehungsweise einer Ausstellung verbinden lassen, können zu einem signifikanten Anstieg der Besucherzahlen führen: Das Musée d’Orsay etwa verzeichnete mit einer Vincent van Gough Ausstellung und der VR Experience "Monsiur Vincent" im Jahr 2024 einen Besucherrekord von 793.000 Besucher:innen. (Link)
2024 sahen über 80.000 Besucher die VR Experience “Un soir avec les impressionnistes - Paris 1874” im Musée d’Orsay. Laut Stéphane Milliere, Geschäftsführer der französischen Firma Gedeon Media Group, welche die Experience produziert hat, waren dies vor allem neue Besuchergruppen, die das Museum damit ansprechen konnte. Die Location Based Experience ist 45 Minuten lang und wurde inzwischen in 13 Museen auf der ganzen Welt gezeigt mit Ticketpreisen von bis zu 29 EUR.
Weitere Beispiele erfolgreicher Implementierungen finden sich unter anderem im Louvre, im Victoria and Albert Museum, im Germanischen Nationalmuseum, im American Museum of Natural History und im Museum für Kommunikation.
Die erfolgreiche VR-Experience "Mona Lisa: Beyond the Glass" (2019) im Louvre, Paris ermöglichte es den Besuchern, detaillierte Informationen über die berühmte Mona Lisa zu entdecken.
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Die Ausstellung "Curious Alice" (2021) im Victoria and Albert Museum (V&A), London ermöglichte es den Besuchern, in die fantasievolle Welt von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" einzutauchen.
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Die Ausstellungshalle mit der XR-Experience „Museum INSIDE/OUT“ im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg wurde von fast 30 % der Museumsbesucher gesehen.
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Das American Museum of Natural History, New York hat schon früh angefangen, mit VR Erfahrungen Inhalte neu zu vermitteln. Eine der jüngsten Highlights war die LED Cave Immersive Experience “Invisible Worlds”.
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Im Museum für Kommunikation, Frankfurt konnten Besucher:Innen mit der VR-Experience „DelightfulGardenVR“ in ein Gemälde von Hironymus Bosch eintauchen.
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Die Produktionskosten hochqualitativer VR Experiences übersteigen allerdings diejenigen eines Dokumentarfilms bei weitem. Da die Förder- und Vertriebsstrukturen das noch nicht abbilden, müssen die Produzenten die Projekte meist mit hohem Risiko vorfinanzieren. Dabei folgt man bewährten Trends. Als Konsequenz sehen wir vor allem erfolgreiche VR Expreriences aus dem Bereich der Malerei, dabei wären die Themenbereiche so vielfältig wie es Museen gibt, die ihre Erlebniskonzepte modernisieren wollen.
Immersive Angebote haben immer noch den Charakter der Neuheit und bieten hervorragende Möglichkeiten für virales Marketing und können dazu beitragen, die Bekanntheit des Museums zu fördern. Neben gesteigerten Besucherzahlen verlängern VR-Erlebnisse auch die Aufenthaltsdauer, erhöhen die Spendenbereitschaft und fördern nachhaltiges Lernen.
Darüber hinaus bringen Produktionsfirmen ein Netzwerk mit etablierten Bildungseinrichtungen und technologischen Partnern mit sowie potentielle Kooperationen mit Technologieunternehmen oder Universitäten; alles Kriterien, die für Museen interessant sein könnten.
Aus Sicht der Dokumentarfilmproduzenten ergeben sich interessante Synergieeffekte: Recherchen, die für klassische Dokumentarfilme durchgeführt werden, können zugleich als Basis für immersive Produktionen dienen. So eröffnen sich neue Geschäftsmodelle, die klassische und innovative Medienformate verbinden.
Trotz dieser Chancen bestehen zentrale Herausforderungen. Auf der technologischen Seite ist die geringe Kompatibilität zwischen den Headsets ein Problem. Projekte werden für eine bestimmte Umgebung geschaffen, die dann auch bei den Museen vorhanden sein muss.
Dazu kommt, dass für eine herausragende Qualität meist noch eine Koppelung zwischen Headset und einem Rechner stattfinden muss und diese Geräte teuer sind. Im Alltag, vor allem wenn mehrere Headsets eingesetzt werden sollen, läuft es meist auf einen Kompromiss hinaus. Zurzeit scheint die Meta Quest 3 für den Museumseinsatz am geeignetsten zu sein. Sie bietet nicht nur ein akzeptables Preis-Leistungsverhältnis, sondern auch Features, die eine Interaktivität in den Anwendungen unterstützen.
Ein weiterer Problempunkt ist der hohe Personaleinsatz in den Museen vor Ort, extra Schulungen der Mitarbeiter sowie Hygiene Anforderungen.
Die für Museen neuartigen Finanzierungskonzepte müssen ebenfalls kommuniziert und in den institutionellen Alltag integriert werden. Dazu kommt die geringe Datenlage zur Profitabilität von XR-Angeboten. Vergleichsstudien zwischen Museen mit und ohne VR sind kaum vorhanden, was Investitionsentscheidungen erschwert.
Die Entwicklung im Bereich XR schreitet dynamisch voran. Distributionsfirmen wie Astrea Immersive, Diversion Cinema oder Unframed Collection erleichtern inzwischen den Vertrieb. Interessanterweise sind alle drei aus Frankreich, Vertriebsfirmen in anderen Ländern müssen diese neue Technologie und die damit verbundenen Chancen erst noch für sich entdecken. Immer mehr Märkte und Festivals bieten Plattformen für immersive Inhalte an. Die internationale Vernetzung zwischen der Medienbranche und immersiven Experten nimmt zu und die Qualität der Produktionen steigt kontinuierlich an.
Der Markt für XR im musealen Kontext bietet somit immense Chancen – sowohl für Museen als auch für Produzenten. Voraussetzung sind jedoch strategische Kooperationen, nachhaltige Finanzierungsmodelle und die Bereitschaft, Pilotprojekte als Experimentierfelder zu nutzen. Gelingt dies, können Museen und Produzenten gemeinsam eine Innovationsführerschaft übernehmen und die Rolle der Museen im digitalen Zeitalter neu definieren.